Am zweiten Verhandlungstag startet die Beweisaufnahme. Als erstes wird ein Kriminalhauptkommissar vernommen, der über die Vernehmung des Angeklagten Sten E. berichtet. Die Verteidigung von Sten E. versuchte zunächst diese Aussage zu unterbinden, scheitert aber.
Mit 90-minütiger Verspätung eröffnet Richter Hans Schlüter-Staats am 7. Oktober 2019, um 11 Uhr, den zweiten Prozesstag gegen die sogenannte „Revolution Chemnitz“. Was gleich zu Beginn auffällt: Das Medieninteresse ist schon nicht mehr so groß wie am ersten Prozesstag. Zudem ist die gläserne Trennscheibe zwischen Verhandlungs- und Besuchersaal teilweise abgeklebt, so dass den Pressevertreter*innen der Blick auf die Angeklagten verwehrt wird. Grund hierfür ist wohl das Veröffentlichen unverpixelter Fotos der Angeklagten. Wie auch schon zur Prozesseröffnung, haben sich wenige Angehörige/Unterstützer*innen der Angeklagten zum Prozess verirrt.
Zu Beginn des Prozesstages verliest einer der Rechtsanwälte (RA) des Angeklagten Sten E., RA Albrecht, eine Erklärung, in der beantragt wird, die Aussagen der Polizeibeamten Baum und Wächter nicht zuzulassen. Diese sollen E. am 20. September und 1. Oktober 2018 vernommen haben. Am 20. September 2018 wurden die Wohnungen des Sten E. und seiner Lebensgefährtin, Lisa W., durchsucht. Danach erklärte E. sich bereit bei der Polizei auszusagen – dazu später Näheres. Die Vernehmung begann laut Protokoll gegen 21 Uhr 10 und endete 03 Uhr 45. RA Albrecht versucht die Anwesenden nun davon zu überzeugen, dass sein Mandant unter einer „Lernbehinderung“ leiden würde und somit als „schutzbedürftig“ gelte. Dies hätten die Beamten mit Blick auf seine Biografie „erkennen“ und ihn somit „qualifiziert belehren“ müssen. Das heißt, dass E. ausführlich und mit Nachdruck auf seine Rechte als Beschuldigter hätte hingewiesen werden und ihm ein Rechtsbeistand zur Seite hätte stehen müssen. Die Hausdurchsuchungen bei E. und seiner Lebensgefährtin, die fortgeschrittene Tageszeit und die „Nichtberücksichtung der Schutzbedürftigkeit“ hätten „E. offensichtlich überfordert“ und „unter Druck gesetzt“, was laut RA Albrecht belege, dass E. seine Aussagen „nicht freiwillig“ getätigt hätte. Laut RA Albrecht führe dies alles zu einem „Beweiserhebungs- und verwertungsverbot“ und somit dürften die Beamten B. und W. nicht aussagen.
Die Bundesstaatsanwaltschaft erwidert daraufhin, dass aus den Protokollen keine Fehler oder Unzulänglichkeiten der Beamten zu entnehmen sind. E. wurde sowohl am 20. September 2018, als auch am 1. Oktober 2018 darauf hingewiesen, dass er das Recht auf eine Rechtsvertretung habe, zum zweiten Termin sei sogar die „Notwendigkeit einer Rechtsvertretung“ betont wurden. An beiden Tagen habe er das Angebot zurückgewiesen. Mit Bezug auf eine vermeintliche Übermüdung des Beschuldigten E. wies die Bundesstaatsanwaltschaft darauf hin, dass „Vernehmungen zur Nachtzeit möglich“ und aus „ermittlungstaktischen Gründen“ gar „geboten sind“. Zudem ist den Protokollen zu entnehmen, dass dem Beschuldigten Pausen gewährt worden seien und er auf Nachfragen immer wieder bestätigt habe „noch fit“ zu sein. RA Albrecht versucht noch einmal die Aussagen der Beamten argumentativ zu widerlegen, doch Richter Schlüter-Staats gibt dem Antrag nicht statt. Weder nach Aktenlage noch laut Protokoll läge eine „Hilfsbedürftigkeit“ des Sten E. vor, auch gäbe es keine Verfahrensfehler der Beamten. Nachdem RA Albrecht einen Gerichtsbeschluss für die Entscheidung des Gerichts beantragt, gibt Richter Schlüter-Staats dem Angeklagten E. noch einmal „zu bedenken“, dass sich Aussagen strafmildernd auswirken können und ein Verbotsantrag die „positiven Aussagen von einst“ relativieren könne. Darauf hin zieht sich das Gericht für eine Stunde zurück.
Um 13:40 Uhr wird der Prozesstag mit der Ankündigung fortgesetzt, dass der Angeklagte Sven W. am vierten Verhandlungstag (28. Oktober 2019) eine Einlassung abgeben wolle. Richter Schlüter-Staats legt dies auch Sten E. ans Herz. Daraufhin erfolgt der Gerichtsbeschluss, dass der Antrag der Verteidigung von Sten E. zurückgewiesen wird und die Beamten B. und W. zu den Vernehmungen des Sten E. vernommen werden dürfen.
Als erstes wird der Kriminalhauptkommissar (KHK) W. vernommen. Er erklärt, dass er nur in „exekutive“ Maßnahmen der Ermittlungen eingebunden gewesen sei. So sei er lediglich an den Hausdurchsuchungen am 20. September 2018 und den beiden Vernehmungen von Sten E. beteiligt gewesen. Er schildert, wie die Hausdurchsuchungen bei E. und seiner Lebensgefährtin abgelaufen sind und dass er E. eröffnet habe, dass er noch am selben Abend vernommen werde. Gegen 20:30 Uhr, 21 Uhr habe sich der Beschuldigte freiwillig auf das Revier in der Chemnitzer Hartmannstraße begeben. KHK W. berichtet ausführlich über die Belehrung des Beschuldigten und dass er diese verstanden habe und keinen Rechtsbeistand gewünscht habe. E. habe sich „kooperativ“ gezeigt. Wenn dies der Fall ist, so KHK W., ist eine Vernehmung die „Regel statt Ausnahme“. Auf Nachfrage gibt der Beamte an, dass er „keine auffälligen intellektuellen Defizite“ beim Beschuldigten ausgemacht habe. E. wies zwar „rechtschreiblich definitiv arge Defizite“ auf, aber das würde im „Allgemeinen ja nichts bedeuten“. Das „Lesen und Verstehen von Worten“ wäre „klar möglich, lediglich eine Schreibschwäche“ wäre auszumachen gewesen. Alles in allem herrschte laut KHK W. eine „entspannte und offene Vernehmungsatmosphäre“ und E. habe Aussagen getätigt. KHK W. gibt an, dass er und sein Kollege B. dem Beschuldigten Sten E. das Protokoll zum Gegenlesen gegeben hätten und er es verstanden und unterschrieben habe.
Dann beginnt KHK W. von der Vernehmung am 20. September 2018 zu berichten. Auf die Frage wo und wie sich Anfangs verabredet wurde, musste der Kriminalbeamte kurz lachen und antwortete: „WhatsApp“. Er sagt aus, dass der Beschuldigte Sten E. „versuchte viel auf sich zu nehmen“, vieles „auf seinen Ideen beruhe“. So soll von E. die Idee gekommen sein am 14. September 2018 auf die Schlossteichinsel zu gehen. Ursprünglich habe man „Antifas“ suchen wollen, da diese wohl am 10. September einen Bekannten verletzt hätten, so der Zeuge. Im Verlauf der Vernehmung des KHK W. wird erwähnt, dass E. gesagt habe, dass es ihm bei der Beschaffung von Waffen „zu bunt“ geworden sei. Dennoch sei er im Chat geblieben. KHK W. gibt an, dass er die dem Angeklagten vorgelegten Lichtbilder zur Identifikation etwaiger Mitverdächtiger eigenhändig, chronologisch nummeriert habe. Auf die Frage von RA Gehre, ob angesichts dreier verschiedener Nummern auf den Bildern „eine Verwechslung ausgeschlossen werden kann“, antwortet KHK W. mit einem knappen „Ja“. Während der Befragung des Zeugen W., weisen diverse Verteidiger immer wieder daraufhin, dass der Vorsitzende Richter Schlüter-Staats suggestiv fragen würde. Was dieser natürlich verneint.
Der Prozess wird am 8. Oktober um 9:30 Uhr mit der Vernehmung des KHK W. fortgesetzt.