10. März 2020: 31. Verhandlungstag

Heute ist der letzte Tag der Beweisaufnahme. Zentral ist ein psychiatrisches Gutachten zum Angeklagten Sven We. Die Gutachterin kann keine Symptome einer Erkrankung feststellen. Außerdem werden heute diverse Bilder in Augenschein genommen, die auf Handys der Angeklagten gefunden worden: Sie unterstreichen deren neonazistische Gesinnung. Außerdem entscheidet das Gericht abschlägig über mehrere Beweisanträge. Die Verteidigung Martin H. stellt außerdem einen Befangenheitsantrag, zieht ihn letztlich aber wieder zurück.

Zu Beginn der heutigen Hauptverhandlung lehnt der Senat einen Antrag von Rechtsanwalt Röthig ab, das Verfahren für einen Monat auszusetzen. Dann folgt das Gutachten der Psychiaterin Dr. Kerstin Buchholz zur Schuldfähigkeit von Sven We.

Die Gutachterin erklärt auf welche Unterlagen sie sich gestützt hat. Sie habe zwei Anträge der Verteidigung, ein Gesprächsprotokoll des psychologischen Dienstes, die Anklageschrift, die Beschuldigtenvernehmung, Sven We.s schriftliche Einlassung und die Zeugenaussage seiner Lebensgefährtin vorliegen. Sie habe Sven We. zweimal besucht und eine Psychologin für eine Zusatzuntersuchung hinzugezogen. Sie habe keine zusätzlichen Unterlagen von seinem Hausarzt angefordert.

Zur Familiengeschichte von Sven We. habe sie nur wenige, unwesentliche Differenzen zu den Vorgutachten feststellen können. Bei der Beschreibung des Verhaltens  jedoch habe es wichtigere Unterschiede gegeben. Im Vorgutachten von Herrn Lange sei Sven We. als wenig belastbar, hochgradig erregt und mit eingeschränkter Konzentrationsfähigkeit beschrieben worden. Bei ihr sei er zwar anfangs unsicher gewesen, dann aber rasch lockerer. Sven We. habe sich auch über mehrere Stunden konzentrieren und aufmerksam dem Gespräch folgen können. Er habe erhebliche Zeitgitterstörungen. Für ihn seien verschiedene Zeitabläufe nicht wichtig und daher merke er sie sich nicht. Klinisch und psychologisch habe er ein leicht unterdurchschnittliches, zerklüftetes Leistungsniveau. Im verbal, abstrakten Bereich habe er unterdurchschnittlich abgeschnitten und bei handlungspraktischen Dingen eher durchschnittlich bis gut durchschnittlich. Seine kognitiven Fähigkeiten seien nicht eingeschränkt und es gäbe keinen Hinweis auf eine geistige Behinderung. Er habe Ressourcen, um sich weiterzubilden und weiterzuentwickeln, die er auch schon genutzt hat.

Die Gutachterin habe keine Symptome psychiatrischer Erkrankungen festgestellt. Die frühere Alkohol- und Drogensucht (Chrystal) habe keine Folgeschäden hinterlassen. Seit 2017 habe er keine Drogen mehr genommen und seinen Alkoholkonsum im Griff. Trotz erheblicher Mengen, die er für seine Süchte angegeben hat, sei er nicht auf Beschaffungskriminalität angewiesen gewesen.

Dr. Buchholz erklärt, es gäbe deutliche Hinweise auf eine abhängige Persönlichkeitsstruktur, die in Richtung einer Störung neige. Sven We. ist eher unselbstständig und abhängig von Personen und deren Meinung zu ihm. Er habe ein großes Bedürfnis nach Bestätigung und Angst davor, dass er keine Aufmerksamkeit bekommt. Er könne sich trotzdem anpassen, auch bei beruflichen, sozialen Anforderungen, sich beispielsweise im Kundenkontakt, auch mit andersdenkenden Menschen, unauffällig verhalten. Daher ist seine Störung nicht sehr erheblich und habe ihn auch zur Tatzeit nicht eingeschränkt, beziehungsweise daran gehindert, eigene Entscheidungen zu treffen. Sven We. neige aber dazu, seine Persönlichkeitsstörung als Ausrede zu benutzen, dass er zum Beispiel etwas nicht richtig verstanden habe, weil er es nicht richtig gelesen hat, weil er nicht gut lesen könne. Deswegen empfiehlt die Gutachterin in Zukunft eine unterstützende, begleitende Therapie.

Nach dem Gutachten verliest das Gericht den Führungsbericht über Maximilian V. in der Untersuchungshaft in der JVA Torgau. Sein Verhalten sei nicht zu beanstanden. Drogentests waren negativ und er zeigt sich umgänglich und beherrscht ruhig. Ein Arbeitsantrag wurde abgelehnt und an Gruppenveranstaltungen dürfe er nicht teilnehmen. Er pflege den Kontakt zu seinen Angehörigen und denke über ein Fernstudium nach. Er ist guter Dinge, dass er nach seiner Haft wieder als Koch / Kellner arbeiten könne.

Anschließend werden Bilder von dem Handy des Angeklagten Marcel Wa. in Augenschein genommen. Es sind Cover verschiedener Musikalben,darunter Blutzeugen, Sturm 18 – Braunzonenrocker, Der böhse Wolf – 3. Reich und Kommando Freisler. Zu sehen ist außerdem ein Bild mit der Aufschrift: „Umso größer der Jude – umso wärmer die Bude“, ein Plakat für eine Rudolf-Hess-Gedenkdemonstration 2007 und ein Bild mit Shirts auf denen „Nationaler Sozialismus“ steht.

Danach nimmt das Gericht Bilder von dem Handy von Sten E. in Augenschein. Eins zeigt die Aufschrift „Unsere Stadt, unsere Regeln – Nazikiez“, weitere zeigen die Schriftzüge „Nationaler Sozialismus – Jetzt“, „Meine Ehre heißt Treue bis zum Tod“, „Combat 18“, „Ich bin stolz Deutscher zu sein“, „White Power“ und „Sturmwehr Sneck“. Zu sehen ist auch ein Hakenkreuz, in dem „Blut und Ehre“ geschrieben steht.Zwei Videos werden abgespielt, eins, in dem ein Nazi-Kinderchor vor Hakenkreuz-Bannern singt: „Der deutschen Arbeit wollen wir den Weg zur Freiheit bahnen…“ und eins, bei dem der Schriftzug „Sieg Hei“ (sic!) nach und nach entsteht.

Es folgen Bilder von einem USB-Stick der Christian K. zugeordnet wird. Zu sehen sind Bilder von Demonstrationen vom 27. August 2018 und vom Inneren einer Kneipe. Im Ordner „Revolution Chemnitz“ sind Bilder von Hakenkreuzen, Wehrmachtssoldaten mit SS-Runen und mit folgenden Schriftzügen zu finden: „Zukunft Retten“, „Revolution Chemnitz“, „Nationaler Sozialismus – mehr als eine Idee“, „34 – WWS – Nationaler Widerstand“‚ „Kinder sind Tabu“, „Und wenn du groß bist Angela, zerstörst du ganz Europa“ (dahinter ist Hitler mit einem Kind zu sehen), „124. Geburtstag – Alles Gute“ (dahinter ein Porträt von Hitler), „Volk ans Gewehr“ und ein Bild auf dem oben ein Bild von Anne Frank zu sehen ist mit der Unterschrift: „Anne Frank mit 14“ und darunter ein Bild von einem Stück Seife mit der Unterschrift: „Anne Frank mit 15“.

Die Verteidigung von Sven We. stellt einen Antrag für ein weiteres forensisch-psychiatrisches Gutachten. Das solle eine verminderte Schuldfähigkeit von Sven We. zeigen. Die Verteidigung kritisiert am heute gehörten Gutachten, dass die Unterlagen des Hausarztes von Sven We. nicht einbezogen worden seien. Außerdem zweifelt die Verteidigung an der Sachverständnis. Die Bundesanwaltschaft weist das zurück, unter anderem weil die Hausarztunterlagen schon eine längere Zeit zurücklägen. Weiterhin seien die psychologischen Untersuchungen standardisierte Verfahren, die eindeutige Ergebnisse hervorbringen. Der Bundesanwalt fragt Sven We. direkt, ob das Vorgehen mit ihm abgesprochen ist. Konsequenzen wäre, dass er vermutlich in die Psychiatrie eingewiesen werde, wenn das Gutachten beweist, was sein Verteidiger ergründen möchte. Das Gericht lehnt den Antrag ab, da Gutachterin alles nachvollziehbar dargestellt habe und keine Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit bestehen.

Abgelehnt wird auch ein Antrag auf ein Sachverständigengutachten, dass beweisen soll, dass die Gründung und der Beitritt zu einer Gruppe in den sozialen Medien alltäglich und damit belanglos ist.  Das Gericht erwartet aber von so einen Gutachten nur allgemeine Auskünfte, die für die Beurteilung eines bestimmten Falles aber nicht geeignet sind.

Der Antrag von Maximilian V.s Verteidigung über ein Stimmgutachten wird abgelehnt, da dem Senat schon bekannt ist, dass die besagte Sprachnachricht nicht vom Angeklagten stammt. Abgelehnt wird auch ein Antrag auf ein linguistisches Gutachten, das zeigen soll, welche Texte von Christian K. geschrieben sind. Dies habe keine Bedeutung für das Verfahren, selbst wenn Christian K. Teile davon nicht selbst geschrieben habe, sind sie von seinem Handy versendet worden und nehme später wiederholt darauf Bezug.

Zum Abschluss folgt ein Befangenheitsantrag von der Verteidigung Martin H. Einer der Verteidiger habe den Vorsitzenden Richter und eine Beisitzerin über Strafmaße sprechen gehört und darüber, dass das Verfahren schnell beendet werden solle. Nun habe sein Mandant die Angst, dass das Urteil für den Senat bereits feststehe und in einem Schnellverfahren durchgebracht werden solle. Bundesanwalt Loose hält diesen Vorgang für problematisch. Der Vorsitzende gibt an, dass es Gespräche über mögliche Ausgänge des Verfahrens waren und das Gericht keineswegs leichtfertig damit umgehe. Der Zeitdruck ergab sich daraus, dass die Angeklagten ja bereits seit anderthalb Jahren in Untersuchungshaft sind und auch derentwillen ein baldiges Ende gewünscht sei. Für den Fall, dass beide abgelehnt werden würden, müsse das Verfahren neu aufgerollt werden, da es nur einen Ersatzrichter gäbe. Der Verteidiger nimmt den Antrag daraufhin zurück. Die Erläuterungen habe ihn umgestimmt, er sagt, dass man manchmal mit Anträgen nur einen neuen Diskurs anregen will und sieht dieses Ziel als erreicht an.